J. Marc Reichow
zum Konzert im Rahmen von
Seelenwelten - Begegnung zwischen Kunst und Psychiatrie
geplant für den 17/09/2006 in Solingen
 
zum Programm:




Keine andere Figur scheint, abgesehen einmal von Robert Schumann und Friedrich Nietzsche, das Zusammentreffen von "Genie" und "Wahnsinn" besser zu exemplifizieren als die des deutschen Dichters Friedrich Hölderlin...
- und dieser Schein hat (je nach Bedarf der Meinungsbeherrschenden) den Dichter hinter der Figur entweder zu erhellen verstanden oder zu verdüstern. Unklar - ja Gegenstand erbitterter Auseinandersetzungen - sind bis heute Diagnose und Diagnostizierbarkeit jener Eigenarten, für die Hölderlin mit den Mitteln seiner Zeit (!) therapiert wurde. Immerhin aber gelten heute Gedichte wie "Hälfte des Lebens" nicht mehr als Beilagen zur Krankenakte, sondern als Meisterwerke deutscher Zunge.

Während früher Philologen wie Psychiater berufsbedingt Mühe hatten, die verschiedenen Zeugnisse von Hölderlins Phantasie auf ihrer deformierten Skala zwischen künstlerischem Anspruch, verfeinerter Bildung, Übersteigerung, Abartigkeit, Geisteskrankheit usw. usf. überhaupt einzuordnen, ist den Komponisten Hölderlin schon immer nah und wesensvertraut gewesen. Sie haben nicht nur die griechische Metrik seiner Gedichte als Musik gehört. Der 17jährige Friedrich Nietzsche - selbst unglücklich zur Musik berufen - schreibt in einem als Schulaufsatz verfassten "Brief an meinen Freund, in dem ich ihm meinen Lieblingsdichter zum Lesen empfehle" über Hölderlins "Hyperion":
"... In der Tat, diese Prosa ist Musik, weiche schmelzende Klänge, von schmerzlichen Dissonanzen unterbrochen, endlich verhauchend in düstren, unheimlichen Grabliedern." [ 1 ]

Gerade Hölderlins schwer einzuordnendes Spätwerk eignet sich der Vertonung - und oft sind es gerade dessen fragmentarische, gesprengte Formen, die erst in der Musik zum Leben zu erwachen scheinen, um ihre Wahrheiten jenseits aller Alltags- wie Papierlogik zu enfalten.

Das Solinger Musikerpaar Truike van der Poel (Mezzosopran) und J.Marc Reichow (Klavier) hat eine Auswahl der faszinierendsten Hölderlin-Vertonungen des 20.Jahrhunderts getroffen:

Lieder aus dem opus 1 des jungen Stefan Wolpe, - Avantgarde aus der Zeit der Weimarer Republik -, aber auch ins Extrem getriebene Fragmente von Wolfgang Rihm, Hanns Eislers fragmentierender Blick aus dem Exil auf den von der Heimat nationalistisch vereinnahmten Dichter, eine beinahe impressionistische Vertonung des jüngst verstorbenen Altmeisters György Ligeti und schließlich Henri Pousseurs "mnemosyne", die Hölderlins Gedanken auf der Ebene der Kompositionstechnik fortführt - oder weiterspinnt?

Nicht unmöglich, daß heute jener Hölderlin , der in den letzten 40 Jahren seines (selbst gewählten?) Exils im Tübinger Turm ausgiebig und immer "ohne Noten" am Klavier phantasierte,
in diesen musikalischen Früchten seiner Werke mehr als allein seine Worte wiedererkennen würde.

Der furchtlose Hölderlinforscher Pierre Bertaux jedenfalls sagt:
"... unerläßlich ist, daß man zumindest gewisse Stellen laut liest und nicht nur, wie man sonst ... liest, mit den Augen. Daß man die Sätze 'tönen' läßt: Sie sind dazu da. Der geschriebene Satz ist nichts als eine Partitur: Wer wird am Lesen der Partitur eines Lieds von Schubert Freude haben? Die allerwenigsten. Sie gehört gesungen. Genauso die Sätze Hölderlins. Goethe richtet an den Leser von Gedichten die vortreffliche Empfehlung:
'Nicht lesen! nur singen - und ein jedes Blatt ist dein!' " [ 2 ]




Truike van der Poel, geboren in Hillegom/NL, nach Studium der Altphilologie (in Leiden) Musikstudium (Gesang und Chorleitung) in Den Haag und Rotterdam, Lehrtätigkeit in Hannover und Mitwirkung in den wichtigsten Vokalensembles heute freiberuflich als Sängerin tätig. Solistische Auftritte auf Festivals der Neuen wie Alten Musik in ganz Europa, zahlreiche Uraufführungen und CD-Produktionen. Mitglied der SCHOLA HEIDELBERG, regelmässige Mitwirkung bei den Stuttgarter Vokalsolisten und im Balthasar Neumann Ensemble. Im Bereich des Neuen Musiktheaters insbesondere Zusammenarbeit mit der Kölner Komponistin Carola Bauckholt (geplante Uraufführung bei der Münchner Biennale für Neues Musiktheater) [ curriculum vitae Truike van der Poel ]

J.Marc Reichow, geboren 1966 in Solingen, studierte Klavier in Köln und Den Haag und spezialisierte sich nach seinem Konzertexamen 1992 auf das historische Hammerklavier, auf dem er vier Jahre später ein weiteres Konzertexamen ablegte. Seitdem internationale Konzert- und Aufnahmetätigkeit sowohl im Bereich der Neuen Musik (Ersteinspielungen, Uraufführungen, CD-Debüt PianoPortrait Ernst Krenek im Jahr 2000) wie der Alten Musik (Gewinn des Concours Musica Antiqua in Brügge 1996 mit seinem Ensemble Trio Eroica). Als Pianist des KlangForum Heidelberg maßgeblich an der Konzeption und musikalischer Verwirklichung des "Projekt Prinzhorn" beteiligt: der Vertonung von Texten psychiatrischer Patienten aus der Sammlung Prinzhorn (Heidelberg) in Kompositionsaufträgen an junge Komponisten. [ curriculum vitae J. Marc Reichow ]
[ Stand 05/07/2006 ]
© JMR 2006




[1]
Friedrich Nietzsche, "Brief an meinen Freund, in dem ich ihm meinen Lieblingsdichter zum Lesen empfehle" (Schulaufsatz, Schulpforta 1860), hier zit.n. Bertaux, Einleitende Worte zum Hyperion in Hölderlin-Variationen, S.32

[2]
Bertaux, Einleitende Worte zum Hyperion, Ebd. S.33





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